SOZIALTHERAPEUTISCHE WOHNPLÄTZE  - EIN SOZIALPSYCHIATRISCHES BETREUUNGSMODELL DER KINDER- u. JUGENDPSYCHIATRIE                    

 

Ernst Berger, Ruth Oberacher, Martina Walter

 

Univ. Prof. Dr. Ernst Berger, Abteilung f. Jugendpsychiatrie des PSD Wien. mailto: ernst.berger@meduniwien.ac.at

 

ZUSAMMENFASSUNG

 

Das Wiener Modell „Wohnverbund sozialtherapeutische Wohnplätze“ wird als Betreuungsmodell im Grenzbereich von Sozialpädagogik und Jugendpsychiatrie anhand der strukturellen Bedingungen sowie der Zielsetzungen beschreiben. Die Evaluation stützt sich auf Daten von 28 KlientInnen, die eine quantitative Beschreibung der Betreuungsangebote und der Betreuungseffekt ermöglichen und auf 4 Klienteninterviews, die eine subjektive Perspektive eröffnen. Die Daten belegen, dass sich das Modell innerhalb von 5 Jahren bewährt hat: 70% der KlientInnen zeigen positive Veränderungen ihres psychosozialen Funktionsniveaus (Achse 6 des MAS), 77% konnten auf sozialpädagogische Wohnplätze bzw. in die Familie zurückkehren. Dennoch gehören anhaltende Schwierigkeiten im Sozialkontakt, Neigung zu gewaltorientierter Konfliktlösung und auffallend kleine soziale Beziehungsnetze zu den anhaltenden Problemen, die die Jugendlichen in ihr weiteres Leben mitnehmen.

 

1.            EINLEITUNG

 

Die (deutschsprachige) Kinder- und Jugendpsychiatrie stützt sich seit den 1970-er Jahren auf Arbeitsformen der Sozialpsychiatrie: Kooperation mit Jugendwohlfahrt, Sozialpädagogik, Schulpädagogik waren und sind Teil der Alltagsarbeit und dienen dem Ziel der sozialen Integration von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen. Sie kann aber nicht für sich in Anspruch nehmen, diese Prinzipien zu den historisch gewachsenen Grundlagen des Faches zu zählen. Vielmehr hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie einen – erst viel später explizit diskutierten (GEIB 1989, MÜLLER-KÜPPERS 1990, LEHMKUHL 2001) – Entwicklungsprozess durchgemacht: die Frühphase des Faches war von den damals dominierenden biologistischen Denkmodellen und der Diskussion über psychopathische Kinder geprägt (BAUMANN et al. 1994, SCHNIER 2000). Darauf folgte – in enger Zusammenarbeit mit den nationalsozialistischen Machthabern - die Periode der Ordnungs- und Vernichtungspsychiatrie (GÜSE, SCHMACKE 1976, BERGER 1988, SEIDEL, MEYER, SÜßE1987): die KJP war williger Kooperationspartner bei der Ausgrenzung und Vernichtung von Kindern und Jugendlichen, die psychisch krank, behindert, verhaltensauffällig waren (DAHL 2001, NEDOSCHILL, CASTELL 2001a; WALTER 2001; BERGER et al. 2003). Auch nach 1945 war die KJP noch gut zwei Jahrzehnte den Strategien der Ausgrenzung durch jugendpsychiatrische Anstalten verpflichtet und teilte diese Praxis mit der Anstaltspsychiatrie des Erwachsenenalters. Dieser Umstand war wohl auch darin begründet, dass es 1945 keinen Bruch in der psychiatrischen Versorgung gab: personelle und inhaltliche Kontinuität prägten die ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit (KLEE 1993).

 

Die Etablierung der Sozialpsychiatrie – bezogen auf die Psychiatrie des Erwachsenenalters -  war im deutschen Sprachraum vor allem mit den Arbeiten von Hans STROTZKA (1965) verbunden (FINZEN 2004). Ihr inhaltliches Anliegen wurde von Franco BASAGLIA auf den Punkt gebracht: „Das ‚Andersartige’ ist Teil des gesellschaftlichen Lebens“ (BASAGLIA 1975) und  Manfred BAUER  ergänzte nach 25 Jahren Erfahrung in der sozialpsychiatrischen Alltagsarbeit: „Gemeindepsychiatrie ist der Versuch... schwierigen Menschen auf die Dauer eine Bleibe unter uns zu geben... Das ist schwierig und alle Beteiligten brauchen einen langen Atem...“ (BAUER 2000). Dieses Ziel, das im Rahmen der Psychiatrieenquete vorgezeichnet wurde (ENQUETEBERICHT  1974),

fand in der Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie der 1970-er und 80-er Jahre seinen Niederschlag (MÜLLER-KÜPPERS, SPECHT 1979), ohne dass der Begriff „Sozialpsychiatrie“ in der Fachliteratur dieser Periode eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. In dieser Zeit wurden die kinder- und jugendpsychiatrischen Krankenhausabteilungen zu Teilen eines Versorgungsnetzes, dessen Schwerpunkte langsam in den extramuralen Bereich verlagert wurden. Ein Kernelement der extramuralen sozialpsychiatrischen Arbeit ist die Kooperation mit Nachbardisziplinen. Diese Kooperation kann mit dem Begriff „Sozialtherapie“ als Integration von Handlungskonzepten der Sozialarbeit, der Sozialpädagogik und den therapeutischen Disziplinen (Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie) beschrieben werden (SCHWENDTER 2000).

 

Das Anliegen diese Beitrages ist es, ein sozialpsychiatrisches Arbeitskonzept der Jugendpsychiatrie zu dokumentieren und in seiner Wirksamkeit zu überprüfen, um es auch in jenen Zeiten zu erhalten, in denen der gesellschaftliche Druck wächst, die psychiatrischen Einrichtungen wieder stärker auf law and order – Funktionen zu orientieren (MÜLLER et al. 2002).

 

 

2.            BETREUUNG VON „SCHWIERIGEN JUGENDLICHEN“

 

Den Traditionen der Sozialpsychiatrie folgend wurde in Wien ein transdisziplinäres Modell zur Betreuung von „schwierigen“ Jugendlichen entwickelt. Der Begriff „schwierig“ beschreibt ein diagnoseübergreifendes Problem des psychiatrischen Alltags: „Der schwierige Patient kommt zwar nicht in psychiatrischen Lehrbüchern vor, sehr wohl aber in der Alltagspraxis.... Menschen mit (chronischen oder häufig wiederkehrenden) psychischen Problemen, verbunden mit Verhaltensweisen, die das soziale Umfeld in hohem Masse belasten“ (BAUER 2000). BAUER schätzt die Zahl dieser Patienten mit 1 : 5000 Einwohner.

 

Eine Analyse der Biografien von Jugendlichen, die oft über mehrere Jahre in der Grenzzone von Jugendpsychiatrie und Sozialpädagogik betreut werden, als „schwierig“ gelten, mittel- bis hochgradig Beeinträchtigungen in ihren psychosozialen Funktionen (Achse 6 der MAS) aufweisen und durchwegs psychiatrische Diagnosen haben, zeigt typische Konstellationen:

 

a)      Symptomebene:

Jenseits der diagnostischen Klassifikation zeigt sich ein relativ gleichförmiges Bild von Symptomkonstellationen: Expansiv – agierendes Verhalten mit häufigen Affektdurchbrüchen, Tätlichkeiten gegen andere, Sachbeschädigungen und / oder Selbstmorddrohungen stellen einen charakteristischen Symptomenkreis dar. Verweigerung der Integration in alterstypische Sozialstrukturen (Schule, Berufsausbildung, peer groups...) und Substanzmissbrauch stellen ein weiteres Bündel von Symptomen dar, die Familien- und Betreuersysteme vor schwer zu lösende Probleme stellen.

 

b)      Biografische Ebene:

In den Lebensgeschichten der „schwierigen KlientInnen“ finden wir im Rahmen der primären Bezugssysteme (Familie) häufig multiple psychosoziale Traumen (chronische Gewalterfahrungen unterschiedlicher Art, wiederholte Trennungserlebnisse und Bindungsverluste) sowie emotionale Deprivation und unzureichende Beziehungsstabilität. Diese Erfahrungen wiederholen sich im professionellen Betreuungskontext der Sozialpädagogik: Sie erleiden sekundäre Traumatisierungen durch – in der Regel mehrfache – Wiederholungen der Kreisläufe von Annahme / Bindung und Ausstoßung als Antwort auf jene Verhaltensweisen, die Grund für die sozialpädagogische Maßnahme waren: sozialpädagogische Wohngruppen ertragen die „schwierigen KlientInnen“ meist nur wenige Wochen bis Monate, sodass ein Wohnsetting in relativ kurzen Intervallen auf das andere folgt.

 

In den siebziger Jahren wurden in der Sozialpädagogik verschiedene Antworten zur Lösung dieser Probleme gesucht. Die kritische Diskussion und die innovative Praxis dieser Jahre (LEBER u. REISER 1972, GERBER 1974, MIRIBUNG 1978, BOLIUS 1979, PETZOLD u. VORMANN 1980) waren den Prinzipien der demokratischen Erziehung und der Überwindung von Gewalt im pädagogischen Handeln sowie therapeutischen Ansätzen verpflichtet und  bezogen sich unter anderem auf die pädagogischen Traditionen der Zwischenkriegszeit (AICHHORN, BERNFELD). Repressive Strategien wurden – unter Hinweis auf die Pädagogik des Nationalsozialismus – offensiv kritisiert und bekämpft.

 

Auch die sozialpädagogische Szene Wiens war in dieser Zeit geprägt von der Diskussion um die Reform des Heimwesens und ihre Umsetzung (SPIEL u.a. 1971, POUSTKA 1976). Im Grenzbereich zwischen Sozialpädagogik und Jugendpsychiatrie (BERGER 1981) waren zwei zentrale Konzepte für die Arbeit mit „schwierigen KlientInnen“ erprobt worden: das Modell des konsiliarpsychiatrischen Dienstes und das Modell „Therapieheim“.

 

a)      Konsiliarpsychiatrisches Modell:

Die Tätigkeit des Konsiliarpsychiaters war geprägt durch geringe Handlungsspielräume und weitgehende Wirkungslosigkeit (BERGER 1979, POUSTKA 1988, BÜTTNER 1974). „Schwierige KlientInnen“ wurden bei Visiten des Jugendpsychiaters im Heim vorgestellt und die Einschätzungen in einem kurzen Gutachten festgehalten. Die Empfehlungen des Psychiaters hatten im Umfeld des traditionellen Heimes selten Chancen auf Verwirklichung. Die stationäre Krisenintervention in der Psychiatrie blieb meistens ohne Konsequenzen für die weitere Betreuung, da nicht der Gedanke der Kooperation, sondern die Vorstellung von der „Reparaturwerkstatt“ dominierte. Die Kluft zwischen dem Bemühen um therapeutisches Verständnis und den Realitäten damaliger Sozialpädagogik in Großheimen war wohl auch zu groß.

 

b)      Therapieheim

 

Dieses Konzept ruhte auf folgenden Säulen: Schaffung von kleinen und überschaubaren Strukturen (20 – 25 KlientInnen), Verzicht auf hierarchische Strukturen, intensive Reflexion des pädagogischen Handelns auf dem Hintergrund eines therapeutischen Verständnisses, enge Einbindung des Jugendpsychiaters in die Reflexion des pädagogischen Prozesses (s. POUSTKA 1988).

 

Dieses Modell scheiterte schließlich vor allem an den gesellschaftlichen Realitäten: Die Reibungen im Umfeld des offen geführten Heimes führten zu Anrainerprotesten, die in wachsendem Maße auch politisch instrumentalisiert wurden. Aber auch die Widersprüche eines hierarchielosen Heimes in der hierarchischen Struktur des Jugendamtes sowie der große Arbeitsaufwand, der durch die zahllosen Teambesprechungen entstand, leisteten ihren Beitrag zur Beendigung dieses Modells am Anfang der achtziger Jahre.

 

3.            DAS WIENER MODELL - WOHNVERBUND „SOZIALTHERAPEUTISCHE WOHNPLÄTZE“

 

Mit der Neugestaltung des sozialpädagogischen Sektors in Wien durch das Konzept „HEIM 2000“ war das Modell „Wohngemeinschaft“ – anstelle früherer Heimstrukturen - als Grundstruktur künftiger Entwicklungen auch für die Betreuung „schwieriger“ Jugendlicher vorgegeben: in einer sozialpädagogischen Wohneinheit leben 7 – 9 KlientInnen bei gleichzeitiger Vermeidung lokaler Kumulation. Im Rahmen dieses Konzepts mussten nun Strukturen für die Betreuung „schwieriger““ Jugendlicher etabliert werden

 

Die inhaltlichen Anforderungen, die ein solches Konzept erfüllen muss, ergeben sich aus der Antwort auf die Frage nach den Bedürfnissen der „schwierigen Jugendlichen“:

 

a)      Beziehungsstabilität: die – meist über Jahre  - andauernden Erfahrungen der Unverlässlichkeit von Beziehungen müssen durch haltbare Beziehungen kompensiert werden. Diese Beziehungen werden durch die psychische Dynamik der Jugendlichen extremen Belastungen (Aggression, Spaltungen, Ambivalenz) ausgesetzt. Das sozialtherapeutische Setting muss so strukturiert sein, dass es diese Belastungen abfedern und die Beziehungen aufrechterhalten kann.

b)      Möglichkeiten der Bearbeitung der Traumen: Ein Teil dieser Bearbeitungsprozesse erfolgt in den Alltagsbeziehungen in der peer group sowie in den Beziehungen zum Betreuerteam. Frühere Erlebnisse werden reinszeniert, Trauer, Wut und Leid werden im Lebensumfeld ausagiert. Als zweite Bearbeitungsebene muss ein psychotherapeutisches Setting verfügbar sein, um dann zur Anwendung zu gelangen, wenn der Zeitpunkt der Nutzbarkeit dieses Angebots gekommen ist.

c)      Verfügbarkeit von Lernfeldern: Das Nachholen versäumter Erfahrungen und Lernschritte umfasst den emotionalen Bereich (siehe emotionale Deprivation), den Bereich sozialer Kontakte und Verhaltensweisen (Alltagsbegegnungen, die nicht auf Beziehungen im engeren Sinne orientiert sind) und funktionelle Defizite (schulische und lebenspraktische Kompetenzen etc.). Auch hier müssen die jeweiligen sozialen Lernfelder ein hohes Maß an Belastbarkeit und Toleranz gegenüber Regelübertretungen aufweisen.

d)      Schaffung einer Lebensperspektive: Wenn es gelingt, gemeinsam mit dem / der Jugendlichen aus der chaotischen und frustrierenden Gegenwart Umrisse einer möglichen Zukunft zu formen und Belege für ihre Realisierbarkeit zu liefern, sind wesentliche Ankerpunkte für die Betreuungsarbeit geschaffen.

Die Antwort auf diese Erfordernisse war die Einrichtung „sozialtherapeutischer Wohnplätze -  ein transdisziplinär - kooperatives Betreuungsmodell für die Betreuung „schwieriger“ Kinder und Jugendlicher. Strukturell wurden zwei unterschiedliche Wege eingeschlagen: Die Schaffung von „therapeutischen Wohngemeinschaften“ mit 7 „schwierigen“ KlientInnen einerseits und die  Mischung von „schwierigen Jugendlichen“ mit anderen sozialpädagogischen KlientInnen („integrativer Typus“) andererseits. Schrittweise wurden 12 Wohnplätze vom integrativen Typus und 7 Plätze in einer therapeutischen Wohngemeinschaft eingerichtet.

 

Das integrative Modell, über das im Folgenden berichtet werden soll, geht davon aus, dass sozialpädagogische Wohngemeinschaften durch Zuschaltung spezifischer Ressourcen diese Aufgaben in der Betreuung „schwieriger KlientInnen“ übernehmen können und es auf diese Weise zu keinen zusätzlichen Prozessen der Ausschließung kommt.

 

Um diese Anforderungen zu realisieren, sind bestimmte strukturelle Voraussetzungen zu erfüllen: Im Rahmen von sozialpädagogischen Wohneinheiten werden sozialtherapeutische Wohnplätze im Ausmaß von maximal 25% der gesamten Platzzahl eingerichtet. Für diese Wohnplätze wird – in zeitlich flexiblem, bedarfsorientiertem Umfang – ein (quantitativ und qualitativ) erhöhtes, inhaltlich differenziertes  Betreuungsangebot vorgesehen. Die Vergabe sozialtherapeutischer Wohnplätze erfolgt aufgrund einer fachlichen Beurteilung des aktuellen Betreuungsbedarfs durch ein externes Clearingteam jeweils für eine Periode von sechs Monaten mit der Möglichkeit der Verlängerung auf der Grundlage des Betreuungsplanes.

 

Wohngemeinschaften, die sozialtherapeutische Wohnplätze anbieten, müssen bestimmte STRUKTURKRITERIEN erfüllen: Alle BetreuerInnen müssen eine einschlägige fachliche Ausbildung abgeschlossen haben und mindestens 50% der BetreuerInnen müssen über eine mehrjährige berufliche Praxis und einschlägige Zusatzausbildungen (Erlebnispädagogik, Spiel- und Freizeitpädagogik, Psychagogik etc.) verfügen. Für die Krisenintervention müssen weitere Personalkapazitäten (ca. 10-15% über dem üblichen sozialpädagogischen Dienstpostenplan) verfügbar sein. Darüber hinaus muss im Umfeld ein interdisziplinäres sozialtherapeutisches Team (z.B. PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, Kunst- u. MusiktherapeutInnen, PsychagogInnen etc.) kurzfristig verfügbar sein. Für alle MitarbeiterInnen muss die Möglichkeit der Fallverlaufsbesprechungen im Team sowie der Supervision bestehen. Die Kooperation mit der Kinder- u. Jugendpsychiatrie muss durch einen Liaisondienst einerseits, und durch eine strukturierte Zusammenarbeit mit einer ambulanten und stationären Behandlungseinheit andererseits gewährleistet sein. Die räumlichen Bedingungen müssen so gewählt werden, dass die Wohnungsstruktur ausreichend Platz für Krisenintervention aufweist. Die Möglichkeit zur kurzfristigen Realisierung erlebnispädagogischer Interventionen muss gegeben sein.

 

Die Finanzierung des zusätzlichen Betreuungsangebotes erfolgt bedarfsorientiert: die ergänzenden Leistungen, die aus einem Katalog von „sozialtherapeutischen Einzelleistungen“ (Tab. 1) ausgewählt werden können, werden in einem Betreuungsplan dargestellt und ihre Inanspruchnahme wird dokumentiert. Festlegung und Veränderung des Betreuungsplans wird dem Clearingteam zur Bewilligung vorgelegt.

KATALOG DER EINZELLEISTUNGEN:

Klientenbezogen:

-          Psychotherapie

-          Kunsttherapie

-          Hippotherapie / Heilpädagogisches Reiten

-          Erlebnispädagogik

-          Einzelbetreuung

-          Logopädie

-          Ergotherapie

-          Einzelunterricht

-          Intensive Umfeldarbeit

Teambezogen:

-          Jugendpsychiatrischer Liaisondienst

-          Supervision, Teambegleitung

-          Fortbildung

 

 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


                        Tab. 1

Folgende KLIENTENKRITERIEN gelten als Voraussetzung für die Aufnahme auf einen sozialtherapeutischen Wohnplatz:

 

·        Buben / Mädchen im Alter zwischen 6 und 18 Jahren

·        Mittel- bis höhergradige Beeinträchtigung in mehreren psychosozialen Bereichen (Achse 6: Stufe 4-6 des MAS) seit mehr als 3 Monaten

·        Schwerwiegende abnorme psychosoziale Umstände (Achse 5 des MAS, z.B. abnorme intrafamiliäre Beziehungen, akute belastende Lebensereignisse, usw.)

 

Die ZIELSETZUNG der sozialtherapeutischen Betreuung wurde folgendermaßen definiert (BERGER, 2001, S.313):

 

·        Bewältigung aktueller Krisen

·        Reduktion der psychosozialen Beeinträchtigung

·        Verarbeitung psychosozialer Traumen

·        Rückführung in ein sozialpädagogisches Betreuungssetting bzw. in die Familie

 

Der freie Jugendwohlfahrtsträger „August Aichhorn – Haus“ führt 6 sozialpädagogische Wohngemeinschaften, die über je 2 sozialtherapeutische Wohnplätze verfügen (integrativer Typus) an unterschiedlichen Standorten im Stadtbereich von Wien. Die Personalstruktur des Jugendwohlfahrtsträgers gliedert sich in ein Leitungsteam (1 Direktor, 3 pädagogische Koordinatorinnen) sowie 6 sozialpädagogische Teams (insgesamt 27 SozialpädagogInnen in den 6 Wohngemeinschaften) und ein administratives Team (Büro, Wirtschaftshelferinnen). Die ergänzenden sozialtherapeutischen Einzelleistungen werden durch ExpertInnen erbracht, die in einem Naheverhältnis zum Aichhorn-Haus stehen und über befristete Verträge in die Kooperation eingebunden werden.

 

Das Betreuungsmodell wird seit 1998 in der Praxis angewandt, wobei die Jahre 1998-2000 als Pilotphase zu verstehen sind. Als wesentliche Elemente erwiesen sich vor allem der flexible Einsatz der vorhandenen Ressourcen, die hohe Belastbarkeit der pädagogischen MitarbeiterInnen, die enge Kooperation mit der Jugendpsychiatrie, die Prozesse der Erstellung von Betreuungsplänen sowie die kollektive Reflexion (Fallverlauf).

 

  1. EVALUATION „WOHNVERBUND AUGUST AICHHORN – HAUS“

4.1.  METHODE

In den 6 sozialpädagogischen Wohngemeinschaften des Jugendwohlfahrtsträgers „August Aichhorn-Haus wurden insgesamt 12 sozialtherapeutische Wohnplätze (je 2 Pro Wohngemeinschaft) eingerichtet. Im Rahmen von 2 pädagogischen Diplomarbeiten an der Universität Wien (WALTER M., OBERACHER R.) wurde eine Evaluation dieser sozialtherapeutischen Wohnplätze durchgeführt, die sich sich auf alle 28 Jugendlichen (3 Mädchen, 25 Knaben) bezieht, die seit dem Bestehen des sozialtherapeutischen Angebotes in diese Betreuungsform aufgenommen wurden.

 

Die Datenerhebung erfolgte teilweise retrospektiv – bei jenen Jugendlichen, die bereits aus der sozialtherapeutischern Betreuung entlassen waren – teilweise parallel zu laufenden Betreuungen.

 

Die Dokumentation erfasst einerseits die Zielsetzungen der Betreuung und die Betreuungsmaßnahmen, andererseits die Klientenmerkmale und die Betreuungseffekte.

Für die Beschreibung der Klientenmerkmale und der Betreuungseffekte wurden folgende Instrumente gewählt:

·        MAS (ICD-10)-Diagnosen der Achse 1 zur Beschreibung des psychiatrischen Syndroms

·        MAS-Diagnosen der Achse 6 (REMSCHMIDT et al. 2001) zur Beschreibung des Niveaus des psychosozialen Funktionsniveaus zu 2 Zeitpunkten, das auch zur Verlaufsbeurteilung (Betreuungseffekte) verwendet wurde.

·        CBCL (Elternfagebogen) zur Beurteilung des Verhaltens durch die SozialpädagogInnen

 

4.2.  ERGEBNISSE

4.2.1.      KLIENTEL

4.2.1.1.ALTER, GESCHLECHT

 

Das Alter der 28 Kinder und Jugendlichen (25 Knaben, 3 Mädchen) liegt zwischen 6 1/12 und 16 1/12 Jahren mit einem Mittelwert von 12,9 Jahren (Tab. 1).

 

ALTERSKLASSEN

< 10 Jahre

10 – 15 Jahre

> 15 Jahre

N= 4 ( 14,3%)

N=19 (67,8%)

N= 5 (17,9%)

Tab. 1 Altersklassen

 

 

4.2.1.2. PSYCHIATRISCHE DIAGNOSEN

 

Die jugendpsychiatrische Charakterisierung erfolgt anhand der MAS auf den Achsen 1 und 6 (Tab. 2, 3).

 

MAS – ACHSE 1 (Hauptdiagnosen)

N=28

F 4

10,7% (N=3)

F 6

28,6% (N=8)

F 60

N=5

F 63

N=2

F 64

N=1

F 9

60,7% (N=17)

F 90

N=1

F 91

N=5

F 92

N=6

F 93

N=3

F 98

N=2

Tab. 2 Diagnosen Achse 1

 

Zusatzdiagnosen wurden in 3 Fällen in der Kategorie F 1 (psychotrope Substanzen) und in 2 Fällen in der Kategorie F 8 (Entwicklungsstörungen) gestellt.

 

Anamnestische und diagnostische Hinweise auf sexuelle Gewalterfahrungen finden sich in 5 Fällen.

Unter den für das Betreuungssetting besonders belastenden Symptomen sind anhaltende Schulverweigerung (in 6 Fällen) und hochgradige Selbst- und Fremdaggression (in 6 Fällen) hervorzuheben.

 

MAS - ACHSE 6 (N=28)

Stufe 4 Ernsthafte soziale Beeinträchtigung

21%

Stufe 5 Ernsthafte und durchgängige soziale Beeinträchtigung in den meisten Bereichen

61%

Stufe 6 Funktionsunfähig in den meisten Bereichen, braucht beträchtliche Betreuung

11%

Stufe 7 Schwere und durchgängige soziale Beeinträchtigung, benötigt ständige Aufsicht und Betreuung

7%

Tab. 3 psychosoziales Funktionsniveau Achse 6 MAS

 

4.2.1.3.CBCL

 

Daten über die Auswertung der CBCL / Elternfragebogen (von den Bezugsbetreuern in der Wohngemeinschaft ausgefüllt) liegen von jenen (N=15) Jugendlichen vor, die sich zum Zeitpunkt der Erhebung noch in sozialtherapeutischer oder sozialpädagogischer Betreuung befinden; auf eine retrospektive Erhebung der übrigen – bereits entlassenen - 13 Jugendlichen wurde aus methodischen Gründen verzichtet. Die Beurteilung der Schulskala betrifft nur die schulpflichtigen Jugendlichen (N=9) (Tab. 4). Der höchste Anteil von Auffälligkeit findet sich im Bereich der Skala für soziale Kompetenz.

 

Kompetenz-Skalen

Skala

unauffällig

Grenzbereich

auffällig

Aktivitätsskala N=15

40% (N=6)

40% (N=6)

20 % (N=3)

Soziale Kompetenz N=15

26,7% (N=4)

6,6%(N=1)

66,7% (N=10)

Schulskala N=9

11,1% (N=1)

44,4% (N=4)

44,4 (N=4)

                        Tab. 4 CBCL / Kompetenzskalen

 

 

 

 

 

Syndrom-Skalen (N=15)

Skalen

unauffällig

Grenzbereich

auffällig

Internalisierende Störungen

 

 

 

Sozialer Rückzug

60% (N=9)

13,3% (N=2)

26,7% (N=4)

Körperliche Beschwerden

86,7% (N=13)

6,7% (N=1)

6,7% (N=1)

Angst/Depression

60% (N=9)

13,3% (N=2)

26,7% (N=4)

Externalisierende Störungen

 

 

 

Delinquentes Verhalten

6,7% (N=1)

33,3% (N=5)

60% (N=9)

Aggressives Verhalten

40% (N=6)

13,3% (N=2)

46,7% (N=7)

Gemischte Störungen

 

 

 

Soziale Probleme

46,7% (N=7)

0

53,3% (N=8)

Schizoid/Zwanghaft

53,3% (N=8)

26,7% (N=4)

20% (N=3)

Aufmerksamkeitsstörung

46,7% (N=7)

26,7% (N=4)

26,7% (N=4)

                        Tab. 5 CBCL / Syndromskalen

 

Der höchste Anteil von Auffälligkeit findet sich im Bereich der Skala der externalisierenden Störungen sowie der Subskala der sozialen Probleme.

 

4.2.2.      BETREUUNGSZIELE

Mit Beginn des sozialtherapeutischen Betreuungssettings werden individuelle Betreuungsziele in den Bereichen Ich-Struktur, Bindung, Sozialverhalten, psychopathologische Symptome und sonstige Problembereiche formuliert. Die häufigsten Ziele waren:

 

Ich-Struktur:

-          Emotionale Stabilisierung

-          Stärkung des Selbstwertgefühls

-          Steigerung der Frustrationstoleranz

-          Adäquater Umgang mit Grenzen

Bindung:

-          Beziehungs- und Bindungsfähigkeit

-          Kontinuierlicher Kontakt zur Familie

Sozialverhalten:

-          Soziale Integration

-          Adäquates Nähe-/Distanzverhalten

-          Selbständigkeit in den Alltagsabläufen

-          Regelmäßiger Schulbesuch und erfolgreicher Schulabschluss

-          Steigerung der schulischen Leistungsfähigkeit

Psychopathologie:

-          Reduktion psychopathologischer Symptome

-          Aufarbeitung der Vergangenheit

-          Psychische Stabilisierung

 

4.2.3.      BETREUUNGSMASSNAHMEN

4.2.3.1. DAUER DES SOZIALTHERAPEUTISCHEN WOHNPLATZES

 

Von den 28 KlientInnen stehen zum Zeitpunkt der Evaluation 10 KlientInnen noch in Betreuung. Die Dauer der Inanspruchnahme eines sozialtherapeutischen Wohnplatzes liegt bei den abgeschlossenen Betreuungen zwischen 1 – 48 Monaten, bei den laufenden Betreuungen zwischen 3 – 40 Monaten (Tab. 6).

 

 

Abgeschlossene Betreuungen N=18

Laufende Betreuungen N = 10

< 6 Monate

22,2% (N=4)

10% (N=1)

6-18 Monate

22,2% (N=4)

50% (N=5)

18-36 Monate

38,9% (N=7)

30% (N=3)

> 36 Monate

16,7% (N=3)

10% (N=1)

Tab. 6 Betreuungsdauer

 

4.3.2.2.EINZELLEISTUNGEN

 

Die Inanspruchnahme der optionalen Einzelleistungen verteilt sich sehr heterogen auf die einzelnen KlientInnen. Einzelbetreuung, Erlebnispädagogik und intensive Umfeldarbeit sind die auf fast alle KlientInnen zutreffenden Einzelleistungen (s. Tab. 7).

 

 

EINZELLEISTUNG

ZAHL DER KLIENTINNEN

Psychotherapie

N=11

Kunsttherapie

N=6

Heilpädgogisches Reiten

N=0

Hippotherapie

N=1

Erlebnispädagogik

N=24

Einzelbetreuung

N=28

Logopädie

N=0

Ergotherapie

N=2

Einzelunterreicht

N=7

Intensive Umfeldarbeit

N=28

            Tab. 7 Verteilung der Einzelleistungen

 

4.3.2.2.1.      EINZELBETREUUNG

 

Die Einzelbetreuung umfasst ergänzende pädagogische Angebote eines gleichbleibenden pädagogischen Mitarbeiters (einer Mitarbeiterin), die in- oder außerhalb der Gruppe stattfinden. Sie bietet die Möglichkeit des Beziehungsaufbaus sowie der Arbeit an spezifischen pädagogischen Zielsetzungen (themenorientierter Interessensaufbau, schulorientiertes Lernen, Übung sportmotorischer Kompetenzen etc.). Einzelbetreuung kann – je nach aktuellem Bedarf - für einige Stunden der Woche (z.B. Lernunterstützung oder Begleitung zu Freizeitaktivitäten) oder kontinuierlich ganztags über mehrere Wochen zum Einsatz kommen.

 

4.3.2.2.2.  ERLEBNISPÄDAGOGIK

 

Erlebnispädagogik findet stets außerhalb der (regulären) Gruppe statt und stellt somit eine spezielle Form der Einzel- oder Kleingruppenbetreuung dar. Sie kann entweder in Form eines mehrwöchigen Projekts als „erlebnispädagogischer Block“ oder als „wiederholte EP-Einheiten“ (z.B. wiederholte Wochenendprojekte) eingesetzt werden.

 

Den beiden Formen erlebnispädagogischer Angebote ist gemeinsam, dass sie von SozialpädagogInnen  begleitet werden, die Teil des Betreuungsteams des August Aichhorn Hauses sind und kein „outsourcing“ betrieben wird. Auf diese Weise kann Beziehungskontinuität aufrecht erhalten werden

 

Folgende zentrale Merkmale sind anzuführen:

Diese Merkmale können als „erlebnispädagogischer Block“ oder als „wiederholte EP-Einheiten“ (z.B. wiederholte Wochenendprojekte) realisiert werden. Folgende Beispiele sollen als Erläuterung dienen:

 

Diese Angebote können als Formen der Krisenintervention Einsatz finden oder auf eine bestimmtes pädagogisches bzw. sozialtherapeutisches Ziel orientiert und dementsprechend inhaltlich geplant werden. Die konkreten Realisierungsformen werden im Einzelfall entsprechend den Bedürfnissen und Möglichkeiten der KlientInnen geplant.

 

Bei den meisten der 24 KlientInnen, die an erlebnispädagogischen Angeboten teilnahmen,  wurde Erlebnispädagogik im Laufe ihrer Betreuung an mehr als 100 Tagen realisiert. Bei drei KlientInnen, die zwischen 25 – 28 Monaten in Betreuung standen finden sich Spitzenwerte von 444 – 518 Tagen.

 

4.3.2.2.2.      INTENSIVE UMFELDARBEIT

 

Diese Einzelleistung, die von den Mitgliedern des sozialpädagogischen Teams erbracht wird, umfasst: Elternarbeit, Kooperation mit Schulen, Kindergärten und mit dem Jugendamt und wird dann codiert, wenn diese Form der systemorientierten Kooperation mit dem Umfeld den in der Sozialpädagogik üblichen durchschnittlichen Umfang deutlich übersteigt. Dies war bei allen KlientInnen im sozialtherapeutischen Setting mit einem Durchschnittswert von 5 Stunden pro Monat der Fall.

 

4.2.4.      BETREUUNGSEFFEKTE

4.2.4.1.BEENDIGUNGSFORM

 

Von den 18 abgeschlossenen Betreuungen wurden 66,7% mit positiven Effekten beendet.

 

BEENDIGUNGSFORM

HÄUFIGKEIT

Betreuungsabbruch - Misserfolg

N=2     11,1%

Betreuungsbeendigung – externe Entscheidung

N=4      22,2%

Betreuungsabschluss - gebessert

N=2      11,1%

Betreuungsabschluss - erfolgreich

N=10    55,6%

                        Tab. 8 Beendigungsform

 

Die Kategorien „gebessert / erfolgreich“ beschreiben globale Einschätzungen, die sich auf folgende Parameter stützen:

 

4.2.4.2.ENTLASSUNGSSETTING

 

Mehr als die Hälfte der KlientInnen konnten nach Abschluss der sozialtherapeutischen Betreuungsperiode in ihrer bisherigen Wohngemeinschaft verbleiben und auf einem sozialpädagogischen Standardwohnplatz weiterbetreut werden. Knapp ein Viertel konnte in die Familie zurückkehren (Tab. 9).

 

FOLGEBETREUUNG

HÄUFIGKEIT N=18

Volljährigkeit

N=1       5,6%

Nachfolgeinstitution

N=3     16,6%

Familie

N=4     22,2%

Sozialpädagogisches Setting

N=10   55,6%

                        Tab. 9 Folgebetreuung

 

 

4.2.4.3.PSYCHOSOZIALES FUNKTIONSNIVEAU

 

Das psychosoziale Funktionsniveau (MAS-Achse 6) - beurteilt für alle 28 KlientInnen - zeigt in über 70% positive Veränderungen. Fünf der 7 KlientInnen, bei denen keine Veränderung feststellbar war, befinden sich noch in sozialtherapeutischer Betreuung (Tab. 10). Diese Veränderungen führen dazu, dass zum Zeitpunkt der Evaluation keine KlientInnen mehr auf den Stufen 7 und 8, hingegen über 28% auf den Stufen 0-3 zugeordnet wurden (Tab. 11).

 

VERÄNDERUNGEN

MAS-ACHSE 6

HÄUFIGKEIT N=28

Keine Veränderung

N=7     25,0%

Negative Veränderung

N=1       3,6%

Positive Veränderung 1-2 Stufen

N=17   60,7%

Positive Veränderung > 2 Stufen

N=3     10,7%

Tab. 10 Veränderungen Achse 6

 

STUFEN

MAS-ACHSE 6

HÄUFIGKEIT AUFNAHME

HÄUFIGKEIT EVALUATION

STUFE 0-3

0

28,6%

STUFE 4-6

92,9 %

71,4%

STUFE 7-8

7,2%

0

Tab. 11 Veränderungen Achse 6 gruppiert

 

4.2.4.4.EINZELBEREICHE PSYCHOSOZIALER FUNKTIONEN

 

Die qualitative Beurteilung der Veränderung psychosozialer Funktionen wurde anhand einer 4-stufigen Skala in jenen 7 Funktionsbereichen vorgenommen, die in der MAS angeführt sind. Die deutlichsten Fortschritte finden sich in den schulischen Anforderungen (57% mittlere + große) und in den Beziehungen zu Gleichaltrigen (43% mittlere + große). Die geringsten Fortschritte liegen im Bereich der Beziehungen zu Erwachsenen und Familie (82% keine + geringe), bei den altersentsprechenden Haushaltsaufgaben (75% keine + geringe), im Erscheinungsbild und Körperhygiene (71% keine + geringe) (Tab. 12).

 

FUNKTIONSBEREICH

HÄUFIGKEIT VON FORTSCHRITTEN (N=28)

 

KEINE

GERINGE

MITTLERE

GROSSE

BEZIEHUNGEN / FAMILIE, ERWACHSENE

39%

43%

14%

4%

BEZIEHUNGEN PEERS

14%

43%

36%

7%

ERSCHEINUNGSBILD, KÖRPERHYGIENE

36%

35%

18%

11%

HAUSHALTAUFGABEN

43%

32%

18%

7%

ALLTAGSBEWÄLTIGUNG SELBSTÄNDIG

14%

39%

47%

0

SCHULISCHE ANFORDERUNGEN

18%

25%

46%

11%

FREIZEITAKTIVITÄTEN, ARBEITSPLATZ

18%

43%

32%

7%

Tab. 12 Veränderungen psychosozialer Funktionsbereiche

 

4.2.5.      SUBJEKTIVE PERSPEKTIVEN – VIER FALLSTUDIEN

 

Mit vier KlientInnen wurden – knapp 2 Jahre nach der oben dargestellten Evaluation – halbstrukturierte Interviews geführt, um deren subjektive Perspektive sichtbar zu machen. Die vier Jugendlichen, die knapp vor dem Abschluss langjähriger Betreuungsphasen standen,  wurden nach dem Gesichtspunkt unerwarteter - positiver oder negativer -  Verläufe der sozialtherapeutischen Betreuung ausgewählt (zwei Mädchen - 13 bzw. 18 Jahre und zwei Burschen - beide 17 Jahre) und von einer externen Gesprächspartnerin (Studentin) interviewt.

 

4.2.5.1.SYNOPSIS DER INTERVIEWS:

 

Alle vier Jugendlichen berichten über Gewalterfahrungen und frühe Beziehungsabbrüche in ihren Kernfamilien. Sie verfügten beim Eintritt in die Wohngemeinschaft über keine relevanten  Vorinformationen über ihr neues Lebensumfeld; sie erlebten den Eintritt und die Annahme durch die BetreuerInnen durchwegs positiv. Als weitere positive Erfahrungen in der sozialtherapeutischen Betreuung wurden genannt: die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und Ruhe zu haben sowie die Möglichkeit, Wünsche zur schulischen und beruflichen Zukunft äußern zu können. Die erlebnispädagogischen Projekte wurden positiv und teilweise als entscheidende Phasen der Entwicklung wahrgenommen.

 

Das soziale Netz erweist sich bei allen vier Jugendlichen als äußerst klein. Zu den verlässlichen Personen, an die sich die Jugendlichen bei Problemen wenden, zählen fast ausschließlich die BetreuerInnen der Wohngemeinschaften. Bei allen vier Jugendlichen wurde der Kontakt zur Familie aufrechterhalten und konnte bei drei Jugendlichen deutlich verbessert werden. Für den Aufbau tragfähiger Freundschaften zu Gleichaltrigen reichen die sozialen Kompetenzen nicht aus. Die aktuellen Beziehungen sind bei allen vier GesprächspartnerInnen durch Ambivalenzen geprägt. Emotionale Labilität, Tendenz zur Verleugnung gekoppelt mit illusionären Wunschbildern kommen in allen Gesprächen zum Ausdruck. Die eigenen Stärken der Jugendlichen haben in ihrem Selbstbild eine klare Kontur -  sie können spontan ihre positiven Seiten aufzählen.

 

Die aktuellen sozialen Kontakte, besonders zu den anderen Kindern/Jugendlichen werden von allen vier Jugendlichen als problematisch und konfliktreich erlebt. Die Schwierigkeiten ergeben sich vorwiegend im unmittelbaren, alltäglichen Kontakt in der Wohngemeinschaft. Die gewählten Lösungsstrategien bei Konflikten sind in erster Linie verbale und körperliche Gewalt.

 

Allen vier InterviewpartnerInnen fehlt der Pflichtschulabschluss. Die Schullaufbahn ist geprägt durch wiederholte Schulverweigerungen bzw. Abbrüche sowie durch geringe schulische Förderung. Die Chancen beruflicher Ausbildung sind daher sehr gering. Den Jugendlichen kann oft nur eine Arbeit im Bereich von Behindertenwerkstätten geboten werden; dies beeinträchtigt die weitere berufliche und persönliche Entwicklung. Die Enttäuschung der Jugendlichen kommt vor allem in der Unzufriedenheit über die geringe Bezahlung zum Ausdruck. Zwei Jugendliche konnten den Schulabschluss nachträglich erwerben und eine Berufstätigkeit aufnehmen.

 

4.2.5.2.PROFESSIONELLE ERWARTUNGEN UND SUBJEKTIVE REALITÄTEN

 

Vergleicht man die Vorannahmen, die als Grundlage des Interviewleitfadens dienten mit den subjektiven Realitäten der KlientInnen, so zeigt sich folgendes Bild:

 

 

a)      Vorannahme 1: Die Jugendlichen erleben im Verlauf der sozialtherapeutischen Betreuung durch positive soziale Kontakte eine Erweiterung ihres ursprünglich sehr kleinen sozialen Netzes.

Nur eine der Jugendlichen gibt eine Ausweitung ihres sozialen Netzes und das subjektive Erleben höherer sozialer Kompetenz an. Auf die anderen 3 Jugendlichen trifft diese Erwartung nicht zu.

b)      Vorannahme 2:. Die Jugendlichen lernen im Rahmen der sozialtherapeutischen Betreuung andere als gewaltorientierte Formen der Konfliktbewältigung kennen und erweitern ihr Repertoire an Lösungsstrategien.

Alle vier Jugendlichen geben häufige Konflikte in ihren Sozialkontakten an und beschreiben Gewalt als effektive Lösungsstrategie. Nur ein Jugendlicher gibt an, den Rückzug als neue Lösungsstrategie gefunden zu haben.

c)      Vorannahme 3: Die Jugendlichen nehmen im Rahmen der sozialtherapeutischen Betreuung den strukturierten Tagesablauf als Hilfe zur Absolvierung einer geregelten Ausbildung (Schule bzw. Lehre) wahr.

Drei Jugendliche konnten einen regelmäßigen Schul- bzw. Lehrbesuch erreichen und erleben dies als einen von ihnen erzielten Erfolg.

d)      Vorannahme 4: Die Jugendlichen erleben die neuen Beziehungsangebote im Rahmen der sozialtherapeutischen Betreuung -  im Gegensatz zu den Konflikten und Traumen in ihrer Herkunftsfamilie – als Schutz und Beitrag zur emotionalen Stabilisierung.

Drei Jugendliche erleben die Unterbrechung familiärer Gewalt- und Beziehungsverlusterlebnisse als emotional entlastend. Eine Jugendliche beschreibt die Konflikte in der Wohngemeinschaft als Wiederholung mit veränderten Personen.

e)      Vorannahme 5: In der Endphase der sozialtherapeutischen Betreuung verfügen die Jugendlichen über neue Lebensperspektiven (Beruf, Wohnen).

Zwei Jugendliche haben zum Zeitpunkt der Entlassung eine klare neue Lebensperspektive für Arbeit und Wohnen. Bei den anderen konnte diese Ziel nicht erreicht werden.

 

  1. DISKUSSION

Die Vergleichbarkeit der hier dargestellten Erfahrungen mit anderen Berichten in der Fachliteratur ist beschränkt, da die Begriffe zur Charakterisierung der KlientInnen, die strukturellen Bedingungen der Betreuung und die Altersgruppierung in großem Maße differieren. Mehrere Autoren betonen die begrifflich-definitorischen Schwierigkeiten der hier beschriebenen Klientel und verwenden den „Begriff Dissozialität als Oberbegriff für sozial problematische Verhaltensweisen“ (HIRSCHBERG 1991) oder heben  die Tatsache ihrer Untragbarkeit in üblichen Jugendhilfsmaßnahmen (HEGEMANN 1991) hervor. Der von BAUER geprägte und von uns übernommene Begriff „der schwierige Patient“ bringt dieses Problem in ähnlicher Weise zum Ausdruck. Die Betreuungsangebote der Kinder- und Jugendpsychiatrie für diese KlientInnen sind recht unterschiedlich gestaltet und reichen von klinischen Therapiestationen (HINRICHS 1993, HIRSCHBERG 1991), über therapeutische Heime und Wohngemeinschaften (SPECHT1989) bis zu sozialtherapeutischen Segelschiffprojekten (HEGEMANN 1991).

Als therapeutische Wirkelemente im Wohnbereich werden stets mehrere Faktoren beschrieben: explizite Therapieverfahren (wie Psychotherapie), rehabilitative Maßnahmen (im Sinne regulärer Tagesstruktur etc.) und das „Milieu“, in dem der „inszenierte Alltag“ eine entscheidende Rolle spielt (BRÜCHER 1988). Als strukturelle Bedingungen werden die hohe Betreuerdichte, das Bezugspersonensystem und der wechselseitige Informationsfluss betont (HIRSCHBERG 1991). Diese Bedingungen sollen die Bewältigung von Krisen gewährleisten, um deren Generalisierung zu verhindern und diese Lösungsstrategien müssen strukturell verankert und nicht nur über individuelle Sonderanstrengungen realisierbar sein (BRÜCHER 1988). In der Jugendpsychiatrie spielt die intensive Arbeit mit dem Umfeld der KlientInnen eine weitere zentrale Rolle (BRÖNNEKE 1988).

 


LITERATUR

 

BAUER M (2000): Der "schwierige" Patient in der Gemeindepsychiatrie. Psychiat Praxis 27, 1-5,

 

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